Wir werfen den Menschen einen Rettungsring zu
Langfristiger Neuanfang durch Adipositas-Chirurgie
Hannover, 06.07.2020
1248 Adipositasoperationen in 20 Jahren: Das ist die Erfolgsbilanz des Zentrums für Adipositaschirurgie im DRK-Krankenhaus Clementinenhaus in Hannover-List. „Wir haben mit diesen Operationen viele Menschen glücklich gemacht“, sagt Dr. Andreas Kuthe, Gründer des Kompetenzzentrums.
Den Grundstein für die damals noch sehr seltenen Operationen von stark übergewichtigen und fettleibigen Patienten legten Kuthe und seine Frau bereits 1998 im Siloah-Krankenhaus. Als das Ehepaar Kuthe anderthalb Jahre später an das Clementinenhaus wechselte, setzte es seine Pionierarbeit fort. „Die allgemeine Meinung damals war, dass man Adipositas nicht operieren könne“, erinnert sich Dr. Kuthe, der inzwischen im Ruhestand ist, „es war ein enormes Stück Arbeit, andere Ärzte, die beteiligten Institutionen wie Krankenkassen und den medizinischen Dienst an Bord zu holen und zu überzeugen, dass eine Adipositasoperation für die betroffenen Menschen, der wichtige und wertvolle Auftakt für ein besseres und gesünderes Leben sein kann.“
Heute bietet das Kompetenzzentrum, das erstmals 2009 zertifiziert wurde und die Leitlinien für Adipositasoperationen bundesweit maßgeblich mitprägte, ein umfassendes und ganzheitliches Konzept für Menschen, die unter Fettleibigkeit leiden. Ob Magenband, Schlauchmagen oder Magenbypass: Die auf dem Wege der Bauchspiegelung in Vollnarkose durchgeführten Operationen sind für die Menschen, die einen Body-Mass-Index (BMI) von mehr als 35, zum Teil sogar von über 40 oder 50 haben, der Startschuss für einen Lebenswandel mit mehr Freude, Gesundheit und einer höheren Lebenserwartung.
Durch Bewegung allein nimmt man nicht ab
Flankiert werden müssen die chirurgischen Eingriffe im Clementinenhaus von maßgeschneiderten Bewegungsprogrammen, individueller Ernährungsberatung und -umstellung, endokrinologischen und psychosomatischen Untersuchungen sowie dem Austausch in einer Selbsthilfegruppe. „Das alles ist wichtig. Doch man muss auch wissen: Durch Bewegung alleine nimmt man nicht ab“, betont Dr. Ruth Wunder, Fachärztin für Chirurgie, die schon bei den ersten Operationen 1998 mit im Team war und jetzt mit ihren Kollegen Dr. Anahita Esnaashari-Esfahani und Jamshid Ahmadpour unter der Leitung des neuen Chefarztes PD Dr. Strey in die Fußstapfen von Dr. Andreas Kuthe und Dr. Ricarda Flade-Kuthe getreten ist. „Bewegung ist ein kostbares Begleitinstrument, doch ohne OP sind adipöse Menschen oft gar nicht in der Lage, sich zu bewegen.“
Großen Wert legt die Fachärztin für Chirurgie darauf, dass das Adipositaszentrum ein Leben lang für die Patienten da ist. „Es geht um einen dauerhaften Prozess“, so Dr. Wunder. Erst vor ein paar Tagen untersuchte die Chirurgin bei dem üblichen alljährlichen Kontrolltermin eine 69-jährige Patientin, die heute bei einer Körpergröße von 1,53 Metern 81 Kilo wiegt, was einem BMI von 34 entspricht. Ein Erfolg! Als sich die Patientin 2008 im Clementinenhaus ihrer Adipositas-OP unterzog, war sie in einem schlechten Gesundheitszustand: Mit 57 Jahren wog sie 123 Kilogramm, hatte einen BMI von 52, Bluthochdruck, Lungenprobleme, Diabetes, eine Refluxkrankheit und war immobil. Heute ist sie gesund, mobil, glücklich. „Dank meiner OP und der langjährigen Betreuung im Adipositaszentrum des Clementinenhauses kann ich heute wieder ein eigenständiges und gutes Leben führen“, betont die 69-Jährige.
Adipositas als chronische Krankheit anerkennen
Leider wird die lebenslange Begleitung der ehemals adipösen Patienten von den Krankenkassen nicht bezahlt. Sie ist überwiegend dem Engagement der Ärzte im Clementinenhaus zu verdanken. Für Birgit Huber ein unhaltbarer Zustand. „Die Kassen stehen hier in der Pflicht, sich deutlich mehr als bisher einzubringen. Adipositas ist eine chronische Erkrankung, die die Betroffenen alleine nicht bewältigen können. Die gesundheitlichen Folgeschäden sind gravierend“, sagt die Geschäftsführerin des DRK-Krankenhauses.
„Bei Adipositas ist es wichtig, dass wir frühzeitig einschreiten“, sagt Oberarzt Jamshid Ahmadpour. Dabei sei der BMI nur ein Indikator unter vielen. „Es ist vorstellbar, dass jemand einen BMI von 40 hat aber gesund und sportlich ist, während jemand mit einem BMI von 35 metabolisch krank ist“, erklärt er. „Gerade für diese stoffwechselkranken Patienten ergeben sich immer ausgefeiltere OP Techniken wie z.B. der Minibypass.“ Gemeinsam mit seinen Kollegen fordert der Chirurg, dass Adipositas als chronische Krankheit anerkannt, die Operation als Teil einer Gesamttherapie gewürdigt und interdisziplinär weiter geforscht wird. „Obwohl wir wissen, dass es sich um eine multifaktorielle Erkrankung handelt, in der der Stoffwechsel und Bakterien im Darm ebenso eine Rolle spielen wie psychische und genetische Faktoren, haftet der Adipositas noch immer das Stigma an, dass die Menschen selber Schuld seien an ihrem Leid, da sie einfach weniger essen und sich mehr bewegen müssten“, beklagt Dr. Wunder.
Langfristiger Neuanfang durch Adipositas-Chirurgie
Stress, Hektik, Zeitmangel, Fast-Food, industriell verarbeitete Lebensmittel, zuckerhaltige Getränke: „Unsere Lebensweise und Umwelt sind in diesem Sinne geradezu toxisch“, betont die Chirurgin. Das bestätigt auch Dr. Christoph Strey, Chefarzt der Allgemein- und Viszeralchirurgie im Clementinenhaus und zeichnet zur Verdeutlichung ein starkes Bild: „Wir alle schwimmen in einem hochkalorischen See. Manche von uns schaffen es, oben zu schwimmen, viele aber drohen unterzugehen. Diesen werfen wir hier in unserem Adipositaszentrum einen Rettungsring zu. Schwimmen müssen sie danach zwar allein aber wir stehen weiterhin unterstützend am Beckenrand.“
Die Unterstützungssysteme für die Patienten des Clementinenhaus werden immer weiter ausgebaut. So verfügt die Klinik seit 1.6.2020 über eine koordinierende Adipositas – Managerin. Und eine psychologisch begleitete Gruppentherapie für Operierte kann „nach Corona“ endlich den dafür notwendigen Raum im Krankenhaus erhalten.